Durch Deine Augen

 

Das sind die Hände meiner Schwiegermutter.

Sie ist fast zweiundneunzig. 

Das Büchlein ist ihr Poesiealbum. Kürzlich beim Aufräumen in einer alten Pappschachtel gefunden.

Wie immer, wenn etwas aus ihrer Vergangenheit auftaucht, beginnt ihre Erinnerung lebendig zu werden.

Für mich geht dann immer ein Fenster in eine ganz andere Welt auf, durch dass ich mit ihren Augen schauen darf.

Poesiealben hatten wir früher auch, als wir in die Schule kamen.

Eltern, Tante und Onkel, Freundinnen (Freunde eher selten...) verewigten sich darin mit guten Wünschen, Gedichten, hier und da frommen Texten und sehr gerne mit Blumenranken verziert.

Ich weiss gar nicht, ob es diese Tradition immer noch gibt.

 

Meine kleine Welt, sowohl im Poesiealbum als auch ganz real, war heil. 

Hier und da ein paar Kratzer, aber im Großen und Ganzen in Ordnung.

Die Welt meiner Schwiegermutter war so ziemlich das Gegenteil davon.

 

 

 

 

 

Als Schulmädchen lernte sie strammen Schrittes zu marschieren und bloß nicht zu viele Fragen zu stellen. Rohrstock und Ohrfeigen gehörten zum Schulalltag wie die straffen blonden Zöpfe, die die Mutter ihr jeden Morgen flocht.

Im Turnen war sie ein Ass. Ein richtig flottes deutsches Mädel, dass gern beim BDM war.

"Da wurde richtig was geboten."

Dass damit trotzdem etwas ganz furchtbar faul war, ahnte sie.

Bekam mit, dass in der Nachbarschaft immer mehr jüdische Jungen und Mädchen fehlten.

Sie erlebte Verhaftungen und Abtransporte und hörte den Vater hinter der Tür auf die Nazis schimpfen.

Als die Bomben fielen und man die Nächte in den Kellern verbrachte, strickte sie.

Strickte sich einmal um die Welt, wie sie manchmal sagt.

Für den kleinen Bruder, der neben ihr im Kinderwagen schlief. Für sich selbst, für Mutter und Tante und Nachbarn.

Wolle konnte man schon lange nicht mehr kaufen. Man ribbelte alte Stücke auf und verstrickte sie neu. 

Sie weint noch heute, wenn sie von den Kellernächten erzählt.

Erinnert sich an den Hunger und die Kälte, das Donnern und Dröhnen der Fliegerstaffeln und das Wackeln der Wände, wenn ein Nachbarhaus in der Straße getroffen wurde.

Sie erzählt von ihrer mutigen Mutter, die geistesgegenwärtig eine Brandbombe aus dem Dachbodenfenster warf.

Von der Tante, die manchmal Likörfläschchen im Kinderwagen in den Luftschutzkeller schmuggelte, über den sich dann alle wie verrückt freuten. 

Irgendwie überstanden sie den Wahnsinn, aber viele Wunden sind nie verheilt.

Ob sie vom Widerstand etwas mitbekommen habe, frage ich.

Ja, hat sie. 

Aber sie war nicht mutig genug. Sie hat durchschaut dass sie belogen wurden.

Und doch hat die Gehirnwäsche der Verbrecher lange nachgewirkt.

 

Ins Poesiealbum hat als erstes ihre Mutter hineingeschrieben:

 

 

 

 

Als ich fragte, ob das denn so funktioniert hat in ihrem Leben - die Hoffnung als Magnet, die Liebe das Segel, das Gebet als Anker - Christus als Mast im Boot des Lebens...da kam nur ein Seufzen.

Dass die Kirche Gott so ziemlich den Garaus machen kann, lässt sich am Leben meiner Schwiegermutter recht gut ablesen.

Ganz kaputt gekriegt hat sie ihn allerdings nicht.

 

Wie sollte man die "frohe Botschaft" verstehen, wenn sie in der Messe nur auf Latein verkündet wurde, von fremden fernen Männern in Spitzenkleidern, die mit dem Rücken zur Gemeinde vor sich hin murmelten?

Wie sollte man Vertrauen zu einem "lieben Gott" entwickeln, wenn man sich im Beichtstuhl Sünden ausdenken musste, die man als Kind nicht begehen konnte - und dann zur Strafe zehn Vaterunser beten sollte?

Was macht es mit einer jungen Frau, die unehelich schwanger wurde und aus Angst vor dem Gerede der Nachbarn in ein Frauenkloster geschickt wurde, wo sie mit anderen "gefallenen Mädchen" auf Knien den Steinboden schrubben musste? Wo manchen dieser Frauen ihre Babies direkt nach der Geburt von den Ordensschwestern weggenommen wurden - mit dem Priester an der Bettkante, der hohle Worte von Sündenvergebung schwafelte?

 

Im Fundus der letzten Aufräum-Aktion tauchte nicht nur das Poesiealbum auf, sondern auch ein altes Gebetbuch aus dem Jahr 1947. Quasi der Vor-Vorgänger des heutigen Gotteslobs (das Gesang/Gebetbuch der katholischen Kirche). Ich habe gerade erst begonnen, darin zu lesen. Es ist nicht unbedingt eine Freude.

 

 

 


 

 

Aber eins ist sicher: Wer heute nach Reformen und Veränderungen ruft, kann beim Vergleich dieser Bücher immerhin eins feststellen:

Kirche kann lernen. Manchmal sogar innerhalb kürzerer Zeit als in einem oder mehreren Jahrhunderten.

Die Hoffnung als Magnet würde ich also durchaus an Bord nehmen.

Leider kommt sie für viele viel zu spät.

Großer Schaden wurde und wird angerichtet.

Seelen und Herzen werden immer noch viel zu oft gequält, statt sie zu erheben.

Es geht dabei natürlich nicht nur um die Frauen.

Aber ihre Geschichten, die sich so oft fast bis aufs Haar gleichen, werden immer noch nicht genug gehört und noch weniger ernst genommen.

 

Das macht mich unheimlich wütend, aber es spornt mich auch an, selbst die Stimme zu erheben.

Wenn ich versuche, etwas für mich aus dem Gebet der Mutter für ihre Tochter im Jahre 1940 mitzunehmen, dann ist es der Wunsch danach, dass man - egal was passiert - einen inneren Mast findet, an dem man sich festhalten kann, wenn alles ins Wanken kommt.

 

Meine Schwiegermutter - nachdem sie ihren Seufzer zu ende geseufzt hatte - sagte:

"Ja, da ist so ein Mast. Das hat schon irgendwie geklappt. Aber mit der Kirche hat das nix zu tun."

Abends, da sitzt sie, gestützt auf ihren Rollator, oft an ihrem Fenster. Schaut in den Himmel wenn die Sterne aufgehen.

Dann, sagt sie, spricht sie manchmal mit Gott.

Weint.

Klagt ihn an.

Klagt sich selbst an.

Dankt.

Und bittet.

Dass Corona weg geht und sie uns endlich wieder drücken darf.

Dass die Knochen weniger schmerzen.

Die Gedanken nachts nicht so schwer auf ihrer Brust sitzen.

Dass sie hundert werden darf.

 

 

 

 

Lesetipp:

Christiane Florin "Trotzdem - wie ich versuche, katholisch zu bleiben" und "Weiberaufstand".

In beiden Büchern treffe ich viele Schwestern meiner Schwiegermutter.

Und Christiane Florin verleiht ihnen wahrhaftig eine Stimme.

 

Heute am 17. Mai feiern wir den Gedenktag der Apostelin Junia, die über Jahrhunderte als Apostel "Junius" durch die diversen Bibelausgaben gegeistert ist, bis nach langer hartnäckiger bibelwissenschaftlicher Arbeit vieler Frauen und Männer die Apostelin wieder sichtbar gemacht wurde. Auch hier wieder ein winziger Baustein, der neu eingeordnet wurde.

Aber es bleiben noch viele Steine umzudrehen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0